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Die Tote und ich alleine im Keller

Die Tote und ich alleine im Keller

Es ist 4:30 Uhr an einem Montagmorgen im Jahre 2002 und ich frage mich, ob die Nacht wirklich schon wieder vorbei ist. Bin ich doch gerade erst eingeschlafen, erschöpft von einem langen und nicht enden wollendem Dienstwochenende.

Gerade erst habe ich die sechsmonatige Probezeit auf der Gefäßchirurgie hinter mich gebracht und somit die erste Hälfte vom ersten Ausbildungsjahr erfolgreich beendet. Ich bin froh, dass diese Zeit endlich hinter mir liegt, der Geruch vom Dekubitus Grad 4 des querschnittgelähmten Herrn Franz, will gar nicht mehr aus meiner Nase weichen. Doch größer hätte der Kontrast zwischen der neuen und alten Station wohl kaum sein können. Von den Krampfadern kommend, hat es mich nun auf die onkologische Gastroenterologie verschlagen.

Kaum ganz wach und auf der Suche nach den ersten Gedanken des Tages, muss ich auch schon wieder an Frau Meier denken, welche mit einem Pankreaskarzinom auf der Station liegt. Endstadium, so heißt es. Mit knapp 80 Jahren hat Frau Meier ein lang erfülltes Leben hinter sich und doch schaudert es mir, wenn ich daran denke, dass sie vielleicht heute nicht mehr da sein könnte. Schwester Silvia am Wochenende meinte, dass es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis Frau Meier es geschafft hat. Wenn ich ehrlich bin, wäre es mir auch ganz recht, denn tatsächlich habe ich große Angst davor, dass Frau Meier in meinem Dienst verstirbt, denn schließlich habe ich noch nie einen verstorbenen Menschen gesehen. Die Schüler des dritten Ausbildungsjahres sagen, dass ihnen der Tot nichts mehr ausmacht, schließlich gehöre es ja dazu, aber für mich unvorstellbar. Ich versuche meine Gedanken abzuwenden, denn schließlich bleibt mir bis 05:10 Uhr nicht mehr viel Zeit, wenn ich 06:00 Uhr pünktlich zum Dienstbeginn im Dienstzimmer sitzen will.

Es ist 05:55 Uhr und ich sitze rechtzeitig zur Dienstübergabe im Zimmer. Dass Frau Meier heute früh um 03:00 Uhr verstorben ist, sagte mir Schwester Angelika, die Dauernachtwache der Station, ohne langes Umherschweifen, als ich das Dienstzimmer betreten habe. Warum das nun die erste Information ist, womit man seinen Schüler des ersten Ausbildungsjahr begrüßen muss, erschließt sich mir nicht wirklich. In Gedanken versunken denke ich daran, dass ich ja noch einmal Glück gehabt habe, denn wenn Frau Meier um 03:00 Uhr verstorben ist, wird sie sicher nicht mehr auf Station liegen. „Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Frau Meier heute Nacht verstorben ist?“ Höre ich die Nachteule fragen. Schwester Heide, eine liebevolle und sehr mütterliche Stationsschwester, entgegnet der Frage mit einem freundlichen „ja“ und unterstützt dies mit einem leichten Kopfnicken. „Im Übrigen liegt Frau Meier noch im Zimmer, ich habe es nicht geschafft sie fertig zu machen und wegzubringen, da die Koloskopiepatientin aus Zimmer 3 alle 5 Minuten geklingelt hat“, ergänzt die Nachtschwester sichtlich erschöpft von ihrem Nachtdienst. Ich merke, wie eine innere Unruhe in mir aufsteigt und sich mir der Magen zuzieht und bin froh, als die Übergabe endlich ein Ende gefunden hat.

In der Hoffnung und Annahme, wenn ich beschäftigt bin, muss ich auch nicht zu Frau Meier, ergreife ich die Initiative, schnappe mir eine Waschschüssel und mache mich auf in Richtung Zimmer 2, wo eine 74 jährige Frau Hilfe bei der morgendlichen Körperpflege benötigt. „Martin, ich brauche mal Deine Hilfe“ schalt es über den Flur. Kaum in der Lage mich zu bewegen, drehe ich mich gefühlt in Zeitluppe um. Schwester Manja, etwa Anfang 30, schlank, leicht gebräunt und mit einer Menge Sommersprossen auf der Nase steht vor mir. Sichtlich mit einem Fragezeichen im Gesicht. „Na wo wolltest du denn so schnell hin? Ich brauche im Zimmer 8 Deine Hilfe.“ Sie musste mir nicht extra sagen, wozu sie im Zimmer 8 meine Hilfe brauchte, schließlich drehten sich den gesamten Morgen meine Gedanken um das Zimmer 8. „Wir werden jetzt Frau Meier erst waschen und anschließend in den Keller bringen.“ Waschen, Keller…. Eigentlich ganz normale Worte und doch können sie einem die Luft im Hals vor Angst abschnüren.   

Kurze Zeit später stehe ich mit Schwester Manja im besagten Patientenzimmer. Mehrere Rundungen zeichnen sich unter dem weißen Bettlaken ab, womit Frau Meier vom Nachtdienst bedeckt wurde. „So, denn wollen wir mal“, sagt Schwester Manja, und zieht mit einem Ruck das Bettlaken von der alten Dame. Ganz friedlich sieht sie aus, ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Die Augen verschlossen und die Hände auf dem Bauch liegend. Die lockigen Haare sehen so aus, ob Frau Meier gestern noch beim Friseur war.

Da ist es wieder, das Herzklopfen und die Unsicherheit, was ich nun machen soll. Ich spüre jeden Atemzug und glaube mit jeder Einatmung schlechter Luft zu bekommen, bis Schwester Manja mir einen Schubs gibt und sagt: „Mach mal Wasser in die Schüssel, zum rumstehen habe ich Dich nicht mitgenommen.“ Auch wenn die Schwester recht locker wirkt, bin ich begeistert, mit welcher Einfühlsamkeit und welchem Respekt sie die Waschung durchführt.

30 Minuten später ist es geschafft und Frau Meier liegt wieder mit einem Laken, jedoch frisch gewaschen, vor uns. Im Glauben, jetzt wieder meiner normalen Arbeit nachgehen zu können, mache ich mich auf in Richtung Zimmertür. „Wo willst du hin?“ Höre ich Manja fragen. „Wir müssen Frau Meier noch runter in den Keller bringen.“ Keller, da ist es wieder dieses Wort. Naja, das Schlimmste ist geschafft und so erwidere ich das Gehörte mit einem Nicken. Seltsam fühlt es sich an, mit einem Bett über den Flur zu fahren, wo eine Verstorbene drauf liegt und du weißt, dass es einer den letzten Wege ist.

Wir haben Glück, denn kaum habe ich auf den Knopf des Fahrstuhls gedrückt, öffnet sich auch schon die Tür. Eigentlich ist der Fahrstuhl mit dem Krankenhausbett mehr als gut ausgefüllt und doch vollbringen wir das Kunststück, noch irgendwie in die kleine Ecke des Fahrstuhls zu passen. Gepresst zwischen Bett und Fahrstuhlwand, macht sich der Fahrstuhl mit uns auf in Richtung Keller. Wenn dieser jetzt stecken bleibt, haben wir echt ein Problem. Doch kaum war der Gedanke zu Ende gedacht, öffnet sich auch schon die Tür des Fahrstuhls. Es ist unverkennbar, dass wir im Keller sind. Ein leicht modriger Geruch kommt uns entgegen. Das gedämmte Licht reicht, um den Weg gut zu erkennen und doch fühlt man sich mit jedem Schritt unsicherer. Etwa 100 Meter sind es vom Fahrstuhl bis zum Kühlraum, wo die Verstorbene von uns zwischengelagert werden soll. Ich ruckle an der Tür, um festzustellen, dass diese verschlossen ist. „Ist die Tür verschlossen?“ Höre ich die Schwester fragen. „Oh nein, ich habe den Schlüssel für die Tür auf Stationen vergessen“ ergänzt sie schnell. Ich denke noch, kein Problem ich hole ihn schnell und kann gar nicht so schnell gucken, wie Schwester Manja kehrt macht und mir sagt: „Warte kurz, ich bin gleich wieder zurück“. Das ist doch ein Scherz, denke ich so bei mir, aber weit gefehlt, denn ich kann nicht so schnell gucken, wie die sportliche Schwester schon die ersten Meter in Richtung Fahrstuhl hinter sich gebracht hat. „Ich passe auf, dass Frau Meier nicht verläuft“, sage ich leise vor mir hin. Tja und da sind die Tote und ich alleine im Keller. Würde eine Stecknadel am Ende des Flures auf den Boden fallen, ich würde es hören, so still ist es geworden. Aus dem Kühlraum dringend ein Brummen der Kühlaggregate. Da ist es wieder, das Herzklopfen und Gefühl, dass die Luft mit jedem Atemzug knapper wird. Immer wieder hört man, dass sich Minuten wie Stunden anfühlen können, in diesem Moment fühlen sie sich an wie Tage. „Hat sich da was unterm Bettlaken bewegt?“ Frage ich mich innerlich. Da war doch was oder nicht? Ich versuche mich zur Ruhe zu zwingen und frage mich, ob ich nicht lieber hätte im Bett liegen bleiben soll. Minute über Minute vergeht, bis Schwester Manja ihr Kommen mit dem Geräusch, des sich in Bewegung gesetzten Fahrstuhls, ankündigt. Die Tür öffnet sich, doch sie ist nicht alleine, sondern in Begleitung eines Mannes vom internen Begleitdienst.

„Martin du kannst jetzt wieder auf Station gehen, Heiko wird mir im Kühlraum mit Frau Meier helfen.“

Dankbar und erschöpft, mit dem Gefühl ein Marathon hinter mir zu haben, mache ich mich auf in Richtung der Station, schließlich wartet hier noch die 74 jährige Frau auf meine Hilfe.